Erde & Umwelt

Reliktarten: Evolution in slow motion

Schwimmender Nautilus

Der Nautilus wird auch Perlboot genannt und gilt als Reliktart. Er hat sich seit vielen Millionen Jahren fast nicht verändert und schwebt noch heute gemächlich durch das Wasser der Tiefsee. Bild: Vudhikrai/Shutterstock.com

Tier- und Pflanzenarten, die sich in ihrem Aussehen fast nicht von ihren entfernten Vorfahren unterscheiden, bezeichnete man gerne als „lebende Fossilien“ – oder heute passender als „Reliktarten“. Warum scheint die Evolution sie vergessen zu haben?

„Uralte“ Lebewesen

Was haben Ginkgobäume, Quastenflosser und Schnabeltiere gemeinsam? Sie leben alle schon seit Jahrmillionen auf der Erde, und ihre Gestalt hat sich seit ihrem ersten Auftreten kaum verändert. Früher wurden solche Tier- und Pflanzenarten als „lebende Fossilien“ bezeichnet. Der Begriff ist etwas widersprüchlich, denn schliesslich kann etwas, das schon lange tot und ein Fossil ist, nicht lebendig sein. Der Begriff wurde von Charles Darwin geprägt, der als Vater der Evolutionstheorie gilt, und weist darauf hin, dass es sich um etwas Uraltes handelt. Heute spricht man lieber von Reliktarten, also Arten, die „Überbleibsel“ aus früheren Zeiten sind.

Vielfalt durch Veränderung

Im Laufe der Erdgeschichte lebte eine unglaublich grosse Anzahl von verschiedenen Lebewesen auf unserem Planeten. Arten entstanden, lebten, veränderten sich und wurden zu neuen Arten. Oder sie starben wieder aus, wie etwa die meisten Dinosaurier. Die Forschung vermutet, dass die wenigsten Tier- und Pflanzenarten länger als einige Millionen Jahre existiert haben. Die Umwelt verändert sich fortlaufend, und alle lebenden Arten müssen sich ihre Nische ständig neu schaffen und sich den Gegebenheiten anpassen, um zu überleben – das ist der Lauf der Evolution. Gelingt dies einer Art nicht, ist sie meist zum Aussterben verurteilt.

Sich vor der Evolution verstecken

Doch bei einigen wenigen Arten, eben den Reliktarten, scheint die Evolution stehengeblieben zu sein. Diese Arten existieren schon seit mehreren 10 oder 100 Millionen Jahren, ohne dass sich ihr Körperbauplan gross von dem ihrer Urahnen unterscheidet. Sie haben oft ursprüngliche, evolutionär ältere und weniger komplexe Merkmale, und manche von ihnen gelten als Mosaikformen (siehe dazu auch Archaeopteryx und Schnabeltier – Mosaikstücke der Evolution). Meistens kommen sie heute nur noch in einigen kleinen Gebieten auf der Erde vor, waren früher aber einmal weit verbreitet und sind gut als Fossilien und Versteinerungen bekannt. Manche Arten hielt man für ausgestorben, bis überraschenderweise noch lebende Exemplare entdeckt wurden.

Wie wird man zum „Oldtimer“?

Doch wie schafften es diese „Oldtimer“, nicht aus dem Verkehr gezogen zu werden? Die Wissenschaft vermutet, dass dies mit ihrem Lebensraum zu tun hat. Reliktarten überdauerten oftmals in abgelegenen und eher ungestörten Regionen (wie etwa der Tiefsee oder dem Regenwald). Sie konnten sich bestens an ihre relativ stabile Umwelt anpassen und werden nicht zur raschen Weiterentwicklung gezwungen. Ausserdem kommen Reliktarten oft in extremen Umgebungen vor, in denen andere Tiere und Pflanzen nur schwer überleben können – sie haben also nicht so viele Konkurrenten. Wahrscheinlich hilft es diesen „Urarten“ auch, dass sie meistens nicht allzu spezialisiert sind. Wenn zum Beispiel ihre Lieblingsnahrung verschwindet, fressen sie einfach etwas anderes. So kommen sie gut mit Veränderungen in der Umwelt zurecht, ohne sich stark anpassen zu müssen.

Gingkoblätter

Die Blätter des Ginkgos sind mit ihrem fächerförmigen Aussehen einzigartig in der Pflanzenwelt. Bild: Toth Tamas/Shutterstock.com

Ginkgos und Urwelt-Mammutbäume überleben (fast) alles

Das Paradebeispiel einer Reliktart im Reich der Pflanzen ist der Ginkgo, der vor 150 Millionen Jahren auf der ganzen Welt zu finden war. Heute ist er der einzige Überlebende seiner Gruppe von Samenpflanzen und unterscheidet sich von allen anderen lebenden Bäumen durch sein Aussehen und seine Fortpflanzung. Auch Urwelt-Mammutbäume gelten als Pflanzen-Oldtimer. Man kannte sie von Versteinerungen und hielt sie für ausgestorben – bis sie 1941 in China wiederentdeckt wurden. Sowohl Urwelt-Mammutbäume als auch Ginkgos sind sehr widerstandsfähig und überstehen heftige Stürme und Brände ohne grosse Schäden.

Das eierlegende Schnabeltier wirkt wie eine Mischung aus Echse, Vogel und Säugetier

Mit seinem Entenschnabel, dem biberähnlichen Schwanz, Schwimmhäuten zwischen den Zehen und einem haarigen Fell wirkt das eierlegende Schnabeltier wie eine lustige Mischung aus Echse, Vogel und Säugetier. Bild: worldswildlifewonders/Shutterstock.com

Von eierlegenden Säugern und aufgewickelten Tintenfischen

Auch in der Tierwelt gibt es zahlreiche Beispiele von Reliktarten, wie etwa Quastenflosser und Lungenfische (beschrieben im Artikel Was erzählen uns Fossilien?). Beide leben schon seit etwa 400 Millionen Jahren auf der Erde, ohne sich tiefgreifend verändert zu haben. Ebenfalls zu den „Urtieren“ zählt das Schnabeltier. Als Kloakentier gehört es zwar zu den Säugern, legt aber Eier, anstatt lebendigen Nachwuchs zu gebären! Es hat viele ursprüngliche Merkmale und gilt als Mosaikform zwischen Reptilien und Säugetieren. Ein weiteres berühmtes Beispiel für ein lebendes Fossil ist der Nautilus. So nennt man einen „aufgewickelten“ Tintenfisch mit Aussenschale, der das grosse Massenaussterben vor 66 Millionen Jahren überlebte – im Gegensatz zu den Dinosauriern.

Reliktarten sind also Tier- und Pflanzenarten, die ohne grosse Veränderung schon länger als die meisten anderen Lebewesen auf unserem Planeten existieren. Oft wirken sie urtümlich und kommen nur noch an wenigen, meist abgelegenen Orten der Erde vor.

Zuletzt geändert: 04.06.2024
Erstellt: 01.11.2013
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