„Was ist denn das für ein Pochen, das man da hinten hört?“, fragte Poietin. „Das macht mir Gänsehaut!“
Globin lauschte. „Oh, das ... Das ist Lilis Herz, das schlägt. Es ist fleissig dabei, Blut in die Adern zu pumpen. So sind wir nämlich hierher gekommen. Toller Transport, findest du nicht?“
Poietin antwortete nicht; es hörte sich das rhythmische Pochen an und zitterte. „Das ist unheimlich ...“
„Nein, ich finde es beruhigend“, entgegnete Globin. „Ich fühle mich sicher, solange ich das Herz schlagen höre, Poietin. Ohne Lilis Herzschlag wäre es hier totenstill. Ehrlich!“ Globin setzte sich hin, um zuzuhören, wie Lilis Blut durch ihr Herz rauschte.
„Weisst du auch wirklich, wie wir zum Knochenmark kommen, Globin?“, fragte Poietin unvermittelt, denn es begann, an Globins Zuversicht zu zweifeln.
„So ungefähr ...“ Globin lehnte sich zurück und schloss die Augen.
„So ungefähr ja oder so ungefähr nein?“, erkundigte sich Poietin ungeduldig.
„Ich kenne mich mit vielen von Lilis Knochen aus ...“ antwortete Globin. „Aber ...“
„Aber was!?“, unterbrach Poietin.
„Aber ich weiss nicht genau, ob die das Knochenmark haben, das wir suchen.“ Poietin verlor seine Geduld und stampfte mit dem Fuss auf. „Ich bin noch jung, weisst du“, fuhr Globin entschuldigend fort. „Ich habe noch nicht alles gesehen ... So ein Körper ist gross ... riesen-, riesengross ...“
Poietin setzte sich hin und schmollte. „Weisst du was?“, sagte Globin nach einer Weile. „Was?“
„Komm, wir besuchen Insulin. Es wohnt in Lilis Bauchspeicheldrüse. Ich bin mir sicher, dass es weiss, wo wir hinmüssen. Es ist dauernd unterwegs!“
Globin führte Poietin Richtung Bauchspeicheldrüse, die – wie Poietin feststellte – aussah wie ein Komma. Bevor Globin darauf etwas erwidern konnte, hüpfte neben ihnen ein Protein mit beiden Beinen ins Blut und bespritzte sie von Kopf bis Fuss.
Teil 5: Globin und Poietin besuchen Insulin
„Iihh!“, rief Poietin angeekelt und wischte die Tropfen weg, die es abbekommen hatte.
„Oh bravo! Gut gemacht, Insulin! Schau uns mal an! Was ist denn das für eine Begrüssung?!“, rief Globin verärgert.
„Was?“, fragte Insulin scheinheilig. „Oh, ´tschuldigung ... hab’ euch nicht gesehen ...“ Es versuchte, nicht zu kichern.
„Ja, ja ...“, grollte Globin.
„Ach komm, ich wollte nur ein bisschen Spass machen! Hier ist es im Moment nicht sehr lustig, wie ihr wisst. Der Sauerstoff fehlt. Schaut euch meine Anlage an; sie läuft immer schlechter. Ich mache mir richtig Sorgen, wisst ihr ...“ Insulin stupste Globin an. „Und deshalb suche ich mir Spass, wo ich ihn finden kann.“
„Genau deshalb sind wir hier, Insulin! Hier! Nimm ein Molekül von meinem Sauerstoff für die Anlage. Mehr kann ich dir leider nicht geben ... tut mir leid ... ich muss ihn so gut wie möglich verteilen.“
Globin nahm ein Sauerstoffmolekül aus seinem Rucksack und gab es Insulin. „Und schau mal, wer hier ist!“ Globin zeigte stolz auf Poietin und war sich sicher, dass Insulin es sofort erkennen würde. Dem war aber nicht so. „Das ist Poietin ...“ drängte Globin. Insulin reagierte nicht. „Poietin ... Insulin ... Du weisst doch, wer Poietin ist, oder?“ Insulin schüttelte den Kopf. „Es ist hier, um unser Problem zu lösen ...“ Insulin zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Poietin wurde verlegen und fühlte sich auch ein wenig fehl am Platz. „Poietin muss zum Knochenmark. Ich habe natürlich sofort angeboten, es dorthin zu bringen“, log Globin unverfroren. Poietin traute seinen Ohren nicht, aber es ging noch weiter so: „ ... du musst uns jetzt nur noch bestätigen, dass wir in die richtige Richtung gehen.“
„Was würdet ihr nur ohne mich machen?!“, rief Insulin aus, während es beiläufig in einer Blutpfütze herumplatschte.
Poietin griff nach Globins Arm. Es wollte von dieser Arroganz nichts mehr hören. „Los, komm! Wir fragen jemand anderen. Was glaubt dieses Protein denn, wer es ist!“
„Mein Name ist Insulin! IN-SU-LIN ...“, wiederholte Insulin langsam und verbeugte sich vor den beiden Proteinen. „Ich bin das Molekül, das den Zucker im Blut sammelt, und deshalb“, fügte es lehrerhaft hinzu, „bin ich AUS-GE-SPROCHEN wichtig.
Poietin zog an Globin, weil es schnell weg wollte. „Poietin ...“, zischte Globin. „Warte! Insulin ist ein unheimlich aufgeblasenes Protein, aber es wird uns sagen, wo wir das Knochenmark finden, das wir suchen ... hab ein bisschen Geduld.“ Globin wandte sich Insulin zu und schenkte ihm sein schönstes Lächeln.
„Und“, fuhr Insulin fort, „wenn Lili Zucker gegessen hat, geht er direkt von ihrem Magen in ihr Blut über. Ich öffne dann die Türen, damit der Zucker in Lilis Leber gelangt, und in ihre Muskeln und alle anderen Gewebe, in denen es Fett gibt ...“
„Müssen wir uns das wirklich alles anhören?“, fragte Poietin, dem es todlangweilig wurde. Globin nickte. „Warte nur ein bisschen ... Insulin redet immer so viel ...“
Insulin runzelte die Stirn. Poietin seufzte. „Der Zucker“, fuhr Insulin fort, „wird dann benutzt, um Lilis Körper die Energie zu geben, die er braucht ... oder ...“, sagte es ganz theatralisch, „er wird beiseitegelegt und später benutzt. Schon mal etwas von Zuckerkrankheit – Diabetes – gehört?“ Insulin plusterte sich mächtig auf.
„Nein. Nein, habe ich nicht. Und ich weiss auch nicht, ob ich davon hören will“, antwortete Poietin hastig und versuchte Globin mit sich zu ziehen. „Wir müssen jetzt wirklich los, weisst du ...“
„Nun“, fuhr Insulin fort und ignorierte Poietin wieder, „Diabetes ist eine Krankheit, die auftritt, wenn man zu viel Zucker im Blut hat.“
„Wieso? Hast du den Schlüssel für die Türen verloren?“, wollte Poietin wissen. Insulin ignorierte den Kommentar, hielt inne, säuberte einen seiner Nägel und sagte dann: „Wie auch immer, welches Knochenmark sucht ihr denn? Es gibt nämlich in jedem Knochen Knochenmark. Und welches auch immer ihr sucht – es ist ziemlich schwierig, von hier aus den Weg zu beschreiben. Ich würde ja mit euch gehen, aber mein Weg führt nicht in die gleiche Richtung“, fügte es kühl hinzu. Globin und Poietin sagten nichts und warteten darauf, dass Insulin weitersprach. „Vielleicht solltet ihr erst einmal den Weg zu Lilis Herzen finden, es kann euch dann sicher an den richtigen Ort befördern.“
„Klasse! Los, komm, lass uns gehen. Auf Wiedersehen!“ Poietin hatte es so eilig, dass es über Globin stolperte. „Wir dürfen keine Zeit verlieren. Tschüss! Bis dann!“ Globin rappelte sich auf, zuckte mit den Schultern und lief Poietin nach.
„Das ist nicht der richtige Weg, Poietin! Wir müssen eine Vene nehmen. Nur eine Vene wird uns zu Lilis Herz bringen. Wenn wir in eine Arterie rutschen, kämpfen wir gegen eine zu starke Strömung und sind dann hundemüde!“
„Was für ein Labyrinth ...“, beschwerte sich Poietin. „Ich verstehe gar nicht, wie man sich hier zurechtfinden kann!“
„Alles eine Frage der Gewohnheit“, antwortete Globin grossspurig. „Ach, wie wär’s, wenn wir dieses Mal den Bus nähmen?“
„Den Bus?“
„Genau. Den Bus. Viele gibt’s hier im Moment nicht, aber es lohnt sich, ein bisschen zu warten.“
Globin führte Poietin zu einer Blutzellenhaltestelle. „Weisst du, Poietin, du hättest nicht so ungeduldig sein dürfen mit Insulin“, sagte es unvermittelt. „Wir sind alle ein bisschen nervös im Moment.“ Poietin spielte mit etwas Klebrigem herum, das es gerade von seinem Bein geklaubt hatte. Es rollte einen kleinen Ball daraus und warf ihn Globin zu, das Poietin einen freundschaftlichen Schubs gab. Die beiden Proteine setzten sich und warteten darauf, dass eine rote Blutzelle vorbeikommen würde. Sie mussten lange warten, aber als dann endlich eine kam, war zum Glück genug Platz für sie da, und sie kletterten hinauf und machten es sich bequem.
„Alles festhalten! Nächster Stopp: Lilis Herz!“
weiter zu Teil 6
Text und Illustrationen: Vivienne Baillie Gerritsen und Sylvie Déthiollaz (Swiss-Prot Group, Swiss Institute of Bioinformatics)
Originaltitel: «Globine et Poïétine sur la piste de la moelle rouge»
Übersetzt ins Englische von Vivienne Baillie Gerritsen
Übersetzt vom Englischen ins Deutsche von CVB International, überarbeitet von Redaktion SimplyScience.ch
© 2003 Vivienne Baillie Gerritsen, Sylvie Déthiollaz, Swiss-Prot Group, Swiss Institute of Bioinformatics
ISBN 2-9700405-2-2
Die Geschichte ist als französisches und englisches Buch bei Lulu.com erhältlich. Die PDF-Versionen sind kostenlos downloadbar.