Am nächsten Tag gingen Lili und ihre Mutter wieder zum Arzt.
„Du bist blutarm, Lili“, erklärte der Doktor. Lili verstand nicht. „Blutarmut bedeutet, dass du nicht genug rote Blutzellen in dir hast.“ Lili drehte sich zu ihrer Mutter um und brach in Tränen aus. „Du brauchst nicht zu weinen. Wir machen dich wieder gesund. Es ist nur so, dass deine Nieren im Moment sehr faul sind.“
„Was hat das mit meinem Blut zu tun?“, schniefte Lili.
„Deine Nieren stellen das Blut her.“
„Die roten Blutzellen?“, fragte Lili und putzte sich die Tränen weg.
„Ja, genau. Normalerweise ist dein Blut voll roter Blutzellen. Das sind die Zellen, die den Sauerstoff aus der Luft einfangen, die du einatmest. Und Sauerstoff ist wie Holz, das man aufs Feuer legt. Es ist sozusagen der Brennstoff, der uns antreibt.“
„Und wenn wir rennen, atmen wir deshalb schneller?“ Lili wurde wieder neugierig, wie man es von ihr gewohnt war.
„Ja ... das kannst du so sagen. Weil dein Körper dann härter arbeitet, brauchst du mehr Sauerstoff.“
„Mmm.“ Lili putzte sich laut die Nase.
„Wenn deine roten Blutzellen den Sauerstoff eingefangen haben, muss er in allen Teilen deines Körpers verteilt werden. Vom Kopf bis zu deinen Zehen. Und ...“
„… und meine Blutgefässe sind wie Autobahnen, die den Sauerstoff überallhin bringen!“, fiel Lili ihm ins Wort.
„Ganz genau!“, rief Doktor Neumann vor Freude, dass Lili verstanden hatte.
„So kommt der Sauerstoff zu deinem Gehirn, zu deinen Muskeln, deinem Herzen und sogar zu deinen Nieren.“
„Aber was macht mein Körper mit all dem Sauerstoff?“, fragte Lili.
„Wie ich dir gesagt habe, Lili. Sauerstoff ist für uns wie das Holz, dass du aufs Feuer legst. Er hält uns am Leben.“
„Aber Essen hält uns auch am Leben“, bemerkte Lili.
„Ja, wir müssen auch essen. Wir brauchen Essen und Sauerstoff, um zu leben.“
Lili lehnte sich zurück und war mit Doktor Neumanns Erklärung zufrieden. „Du siehst, wenn du nicht genug rote Blutzellen hast, kann der Sauerstoff, den du einatmest, seinen Weg in deinem Körper nicht finden, und alles wird langsamer.“
„Und deshalb bin ich im Moment so müde ...“
„Ja. Deshalb macht dich alles, was du tust, so müde.“
„Wie werden Sie mich wieder gesund machen, Herr Doktor? Werden Sie mir rote Blutzellen einfüllen?“
„So ähnlich; aber du musst sie selbst herstellen.“
„Wie?“
„Ich werde dir Medizin geben und die wird dir helfen, mehr Blutzellen herzustellen.“
„Oh?“ Lili sah Doktor Neumann mit grossen Augen an.
„Es ist Medizin, die wir dir jeden Tag als Spritze geben müssen.“
Der Doktor nahm Lilis Hand. „Und du musst eine Weile im Bett bleiben.“
Lili sagte nichts. Nicht zur Schule zu gehen war keine schlechte Idee, aber tägliche Spritzen waren nicht so gut.
„Wie heisst die Medizin?“
„E-ry-thro-poi-etin”, sagte der Arzt langsam. „Es ist ein Molekül. Ein ganz kleines.
Normalerweise stellen deine Nieren es her, aber im Moment tun sie das nicht. Erythropoietin wird deinem Körper helfen, mehr rote Blutzellen herzustellen. Dann kannst du wieder zur Schule und wirst höher und weiter springen und hüpfen, als du es vorher je konntest!“
„Toll!!!“ Lili klatschte in die Hände.
Teil 2: Lili will zu schnell gesund werden
Statt dass es Lili besser ging, schien es ihr jedoch nur schlechter zu gehen. Vor drei Tagen war Lili zuletzt beim Arzt gewesen. Sie hatte schon drei Spritzen erhalten und war immer noch genauso müde und niedergeschlagen wie vorher. Ihre Freunde besuchten sie jeden Tag, brachten Geschenke mit und lachten mit ihr. Merlin – Lilis Kater – verbrachte seine Zeit ausgestreckt auf ihrem Bett. Er schnurrte und schmiegte sich an sie, gerade so, wie sie es eigentlich mochte ... aber nichts schien sie aufzuheitern. Sie döste den ganzen Tag nur vor sich hin und träumte wilde, bunte Träume.
Lili wollte schnell gesund werden! Susi im Gummitwist schlagen, Leon an den Pfosten des Basketballkorbs binden, mit ihren Freundinnen kichern. Aber stattdessen sass sie im Bett fest. Die Medizin, die ihr Doktor Neumann gegeben hatte, stand auf ihrem Nachttisch. So wie sie das sah, wirkte die Medizin überhaupt nicht. Bestimmt hätte er ihr mehr geben müssen ...
Das Schlimmste war, dass sie jeden Tag darauf warten musste, dass Doktor Neumann ihr die Medizin geben würde. „Du kannst sie nicht schlucken“, hatte er ihr gesagt. „Weil das Molekül ein Protein ist, würde dein Magen es nur verdauen und das würde dir nichts nützen. Wir müssen es direkt in dein Blut einspritzen.“
Wirklich? Was wäre, wenn sie einen Schluck nehmen würde? Nur einen? Das würde ihr doch nicht schaden, oder? Und es würde ihr viel schneller besser gehen ... Lili warf einen Blick auf die Flasche. Nur einen Schluck ...
Es war ganz ruhig im Haus. Sie setzte sich auf, schnappte sich die Flasche und leerte sie in einem Zug.
weiter zu Teil 3
Text und Illustrationen: Vivienne Baillie Gerritsen und Sylvie Déthiollaz (Swiss-Prot Group, Swiss Institute of Bioinformatics)
Originaltitel: «Globine et Poïétine sur la piste de la moelle rouge»
Übersetzt ins Englische von Vivienne Baillie Gerritsen
Übersetzt vom Englischen ins Deutsche von CVB International, überarbeitet von Redaktion SimplyScience.ch
© 2003 Vivienne Baillie Gerritsen, Sylvie Déthiollaz, Swiss-Prot Group, Swiss Institute of Bioinformatics
ISBN 2-9700405-2-2
Die Geschichte ist als französisches und englisches Buch bei Lulu.com erhältlich. Die PDF-Versionen sind kostenlos downloadbar.