Kurze Zeit später hörten sie einen schrillen Pfiff und drehten sich um. Bevor sie ausweichen konnten, wurden sie von einer Staffel Proteine überrannt, die offensichtlich hinter einer kleinen Kreatur her waren, die ein bisschen aussah wie ein Seeigel.
Teil 8: Was sind eigentlich Proteine?
„Was war denn das schon wieder?“ Poietin, an die Wand des Blutgefässes gedrückt, schnappte nach Luft.
„Das? Oh ... Das waren Immunoglobuline ...“ Globin hielt Poietin die Hand auf den Mund.
„Versuch gar nicht erst, das auszusprechen ...“ Poietin schüttelte den Kopf. „Die sind hinter dem kleinen Ball mit den Spitzen her.“
„Warum?“
„Weil es ihre Aufgabe ist, Viren und Bakterien zu bekämpfen.“
„Die in Lilis Körper eindringen, wenn sie sich verletzt?“
„Ja ... Aber es gibt auch solche, die auf anderem Weg hereinkommen. Durch die Nase, zum Beispiel. Der Punk-Ball, den du gerade hast vorbeiflitzen sehen, ist ein Grippevirus. Eigentlich nichts wirklich Gefährliches ... Aber es ist besser, wenn sie ihn erwischen, denn gerade jetzt ist keine gute Zeit für Lili, eine Infektion zu bekommen.“
„Verrückt – ich wusste gar nicht, dass es so viele verschiedene Proteine gibt!“, bemerkte Poietin.
„Da hast du noch längst nicht alle gesehen. Es gibt Tausende und Abertausende!“
„Tausende?“
„Richtig ... Tausende ... in Lili. In ihrer Mutter. In allen Menschen, die sie kennt ...“
„In allen? Hat jeder Tausende von Proteinen?“
„Oh ja. Und Tiere und Pflanzen auch“, fügte Globin hinzu. „Und kein Protein sieht aus wie das andere. Alle haben unterschiedliche Formen und Grössen und machen viele verschiedene Sachen. Weisst du, wir sind eine sehr, sehr grosse Familie.“
„Was? Wir sind also alle Cousins?“, fragte Poietin entsetzt.
„Ähm ... nicht Cousins ... nicht so richtig ... aber wir bestehen aus dem gleichen Material.“
„Material?“
„Ja, Material.“ Poietin hatte eine etwas bessere Erklärung erwartet.
„Was denn für Material, Globin?“
„Müssen wir darauf jetzt wirklich genau eingehen?“
„Ich will das wissen. Das ist mein Recht, oder?“
„Ich kann es kaum glauben, dass du es bis hierher geschafft hast mit dem bisschen, das du weisst!“
„Du hast mir immer noch nicht gesagt, aus was für Material wir gemacht sind“, insistierte Poietin, unbeeindruckt von Globins wenig schmeichelhafter Bemerkung.
„Das willst du gar nicht wissen, Poietin. Glaub mir.“
„Doch. Ich warte ...“
„Na gut. Aminosäuren.“
„Was?“
„Ich hab’s dir doch gesagt, oder?“
„Du hast mir was gesagt?“
„Dass du’s nicht wissen willst.“
„Dass ich was nicht wissen will?“
„Sei doch nicht so dickköpfig!“ Globin stampfte mit dem Fuss auf.
„Also gut. Wir sind aus Aminosäuren gemacht. Und ich frage auch gar nicht, was das ist ... aber ich will wissen, wo all diese Proteine hergestellt werden.“
„In Lilis Zellen.“
„Was ist denn eine Zelle?“
Entmutigt nahm Globin Poietin bei der Hand. „Dich haben sie wirklich nicht gut auf deinen Auftrag vorbereitet. Komm mal mit. Wir setzen uns jetzt nochmal auf eine rote Blutzelle und ich erkläre dir ein paar Dinge, ja?“
Nachdem sie es sich bequem gemacht hatten, fuhr Globin fort: „Also … alle Organe von Lili, also ihr Herz, ihre Nieren oder ihre Leber, sind aus Zellen gemacht. Zellen sind für einen Körper dasselbe wie Bausteine für ein Haus.“ Poietin hörte aufmerksam zu. „In jeder Zelle gibt es Maschinen, die all die verschiedenen Proteine herstellen, von denen ich dir erzählt habe.“
„Aber woher wissen die Maschinen, welche Proteine sie herstellen müssen?“, unterbrach Poietin.
„Das wollte ich dir ja gerade erklären“, sagte Globin und gab sich Mühe, ruhig zu bleiben. „Jede Maschine liest ein Rezept, das in einer Art grossem Buch mit dem Namen DNA steht.“
„DNA?“
„Ja ... DNA ... schon einmal von DNA gehört?“ Poietin schüttelte den Kopf.
„Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Du bist doch ein Protein, richtig?“ Poietin nickte. „Und du wurdest in Lilis Nieren hergestellt, ja?“ Poietin nickte wieder. „Lilis Problem ist, dass ihre Nieren nicht so funktionieren, wie sie sollen, und sie stellt nicht mehr genug von euch her. Deshalb hat sie dich geschluckt ...“ Poietin schien verstimmt. „Du warst in der Medizin, die sie geschluckt hat, weisst du nicht mehr?“
„Ach ja! Sie musste mich als Medizin nehmen, weil sie mich im Moment nicht herstellen kann!“ „Richtig!“
„Jetzt verstehe ich ... Ich wusste, dass ich zum Knochenmark muss. Ich wusste, dass ich hier bin, um Lili zu helfen, rote Blutzellen herzustellen. Aber ich wusste nicht, wie ...“
„Sie hat im Moment nicht genug davon.“
„Aber vorher hatte sie genug ... Wo sind die alle?“
„Trotz deiner schrecklichen Unkenntnis bist du ganz schön clever, was?“
„Warum, glaubst du, haben die mich hierher geschickt?“, antwortete Poietin pikiert.
„Der Haken ist, dass sich rote Blutzellen im Lauf des Lebens abnützen. Deshalb müssen sie ersetzt werden.“
„Und darum ...“ Poietin fing an, zu verstehen. Nicht nur, warum diese Aufgabe wichtig, sondern auch, warum sie dringend war.
„Ja. Du bist auf dem Weg, um ...“
„Stammzellen in Lilis Knochenmark zu finden ...“, unterbrach Poietin, „... die sich vermehren und dann rote Blutzellen werden.“
„Genau. Ich dachte, du verstehst das nie … Bei Lili sind diese Stammzellen sozusagen eingeschlafen, und deine Aufgabe ist es, sie zu wecken. Zum Glück haben wir das jetzt klargestellt!“
weiter zu Teil 9
Text und Illustrationen: Vivienne Baillie Gerritsen und Sylvie Déthiollaz (Swiss-Prot Group, Swiss Institute of Bioinformatics)
Originaltitel: «Globine et Poïétine sur la piste de la moelle rouge»
Übersetzt ins Englische von Vivienne Baillie Gerritsen
Übersetzt vom Englischen ins Deutsche von CVB International, überarbeitet von Redaktion SimplyScience.ch
© 2003 Vivienne Baillie Gerritsen, Sylvie Déthiollaz, Swiss-Prot Group, Swiss Institute of Bioinformatics
ISBN 2-9700405-2-2
Die Geschichte ist als französisches und englisches Buch bei Lulu.com erhältlich. Die PDF-Versionen sind kostenlos downloadbar.