... als jemand Poietin ergriff, hochhob und durch etwas Weiches, Nachgiebiges zog. Poietin stand reglos da, zitternd und zu eingeschüchtert, um die Augen zu öffnen.
„Mach die Augen auf, du Dummerchen!“, sagte eine fröhliche Stimme. Also öffnete Poietin die Augen. Ganz langsam. Es stand in einem dämmrigen, engen Tunnel; noch viel enger als der, durch den es gefallen war. „Hallo!“, sagte die fröhliche Stimme wieder. „Ich bin Globin!“
Teil 4: Poietin begegnet Globin
Ein hübsches, rundliches Protein begrüsste Poietin. „Mann! Du bist gerade rechtzeitig gekommen!“ Poietin schnappte nach Luft. „Danke! Ohne dich wäre ich jetzt zerhackt ... Wer war dieses schreckliche Protein überhaupt?“, fragte es Globin, während es ein paar Schleimklumpen entfernte, die an ihm hingen.
„Oh, das war Pepsin“, antwortete Globin unbekümmert. „Das ist sein Job. Es verbringt den ganzen Tag damit, Lebensmittel zu zerhacken.“
„Aber warum?“, fragte Poietin.
„Pepsin gehört zu dem System, das man Verdauung nennt. Niemand kann ohne Pepsin auskommen. Alles Essen, das in Lilis Magen ankommt, wird von ihm zerkleinert ...“
„... wie das arme Albumin ...“
„Ja ... wie Albumin ... Und dann werden die Einzelteile an verschiedene Körperteile verschickt.“
„Wozu?“
„Sie werden als Bausteine benutzt.“ Poietin verstand das nicht, also erklärte Globin weiter.
„Sie werden entweder benutzt, um Teile zu ersetzen, die erneuert werden müssen, oder um neue Teile herzustellen.“
„Ah ... jetzt verstehe ich ...“ Poietin verstand eigentlich immer noch nicht, aber es dachte an etwas anderes. Es hatte sich noch nicht so richtig erholt von dem Schrecken, fast selbst so ein Baustein zu werden.
Globin wollte auch gar nicht mehr weiter erklären und schaute sich Poietin genau an.
„Wer bist du eigentlich? Du hast ganz schön Glück gehabt, dass ich da war!“
„Ich bin Poietin. Und ... ich habe ... einen Auftrag. Einen ganz besonderen Auftrag!“, sagte es wichtig. Globin schien das überhaupt nicht zu beeindrucken, also redete Poietin weiter. „Ich bin hierher geschickt worden, um das Knochenmark zu finden, wo Lili rote Blutzellen herstellt, denn sie stellt anscheinend nicht genug davon her.“
„Na, das wurde aber auch Zeit!“, rief Globin. „Ich habe schon auf dich gewartet! Ich bin nämlich TOTAL erschöpft!“
„Oh, wieso?“, fragte Poietin.
„Weisst du denn nicht, wer ich bin?“, fragte Globin verletzt. Das wusste Poietin nicht und sagte lieber gar nichts. „Ich bin ein Hämoglobin“, sagte Globin nachdrücklich und drehte sich einmal um seine eigene Achse. Poietin versuchte, beeindruckt auszusehen. „Ich wohne in den roten Blutzellen und fange die Sauerstoffmoleküle auf, die in Lilis Lungen ankommen. Und dann begleite ich sie zu den anderen Teilen ihres Körpers.“
„Schau mal!“, sagte Globin, drehte sich noch einmal langsam um und zeigte Poietin einen Rucksack voll Sauerstoff.
„Toll!“, sagte Poietin. „Du trägst ja vier von denen. Sind die nicht schwer?“
„Die sind so leicht wie Luft!“, lachte Globin und drehte eine zweite Pirouette. Dann wandte es sich wieder Poietin zu und sagte ernst: “Du bist überhaupt nicht da, wo du sein solltest, weisst du das? Das Knochenmark, das du finden musst, ist Millionen von Molekülen entfernt von hier. Du machst dich jetzt lieber auf den Weg ... Ich lass dich mal, muss nämlich auch arbeiten! Es war schön, dich zu treffen, wirklich! Viel Glück!“
„He, geh nicht weg!“
„Wieso?!“
„Du kannst mich doch nicht einfach hierlassen!“
„Warum denn nicht?“
„Du musst mir helfen, das Knochenmark zu finden!“ Poietin wollte nicht wieder allein gelassen werden und fügte höflich hinzu: „Bitte!“
„Tut mir leid, da musst du dir selber helfen. Meine Pflicht ruft“, erwiderte Globin herablassend.
„Aber willst du nun Lili helfen oder nicht?“, flehte Poietin.
„Natürlich will ich ihr helfen! Was für eine Frage!“
„Nun, dann denk nach. Du lieferst Sauerstoff, richtig?“ Globin nickte. „Also, wenn du mir hilfst, das Knochenmark zu finden, dann kann ich mehr rote Blutzellen herstellen und du kannst sogar noch mehr Sauerstoff liefern ...“ Globin hörte aufmerksam zu, während Poietin den Gedanken weiterspann: „und du wärst ein Held ...“
„Mmmm ... da hast du vielleicht recht,“ überlegte Globin und wurde aufgeregt. „Und alle werden über mich reden ... ich werde überallhin eingeladen ... werde Feste eröffnen und Autogramme geben ... in lila Tinte ... und ich bin im Fernsehen ... und im Radio ... und Journalisten werden über mich in Zeitschriften schreiben, und in Zeitungen ... und irgendjemand wird bestimmt meine Biografie schreiben ... und ...“
Poietin unterbrach: „Und wenn wir nicht bald losgehen, wird Lili ganz schwer krank.“
„Na, dann los!“, rief Globin. „Wir dürfen keine Zeit verlieren!“ Es nahm Poietin an der Hand, und die beiden verschwanden durch ein Blutgefäss.
weiter zu Teil 5
Text und Illustrationen: Vivienne Baillie Gerritsen und Sylvie Déthiollaz (Swiss-Prot Group, Swiss Institute of Bioinformatics)
Originaltitel: «Globine et Poïétine sur la piste de la moelle rouge»
Übersetzt ins Englische von Vivienne Baillie Gerritsen
Übersetzt vom Englischen ins Deutsche von CVB International, überarbeitet von Redaktion SimplyScience.ch
© 2003 Vivienne Baillie Gerritsen, Sylvie Déthiollaz, Swiss-Prot Group, Swiss Institute of Bioinformatics
ISBN 2-9700405-2-2
Die Geschichte ist als französisches und englisches Buch bei Lulu.com erhältlich. Die PDF-Versionen sind kostenlos downloadbar.