„Es ist ganz schön ruhig hier“, flüsterte Poietin plötzlich. „Wo sind wir?“
„Wir sind ganz nahe bei Lilis Hypothalamus“, flüsterte Globin zurück.
„Hippie- was?“
„Hypo! Hypothalamus. Er gehört zu Lilis Gehirn.“
„Warum ist es denn so ruhig hier?“
„Sie wird wohl schlafen. Der Hypothalamus ist ein ganz wichtiger Teil des Gehirns.“
„Das muss er ja wohl sein, mit so einem Namen ...“
„Es ist der Teil, der Lili sagt, wenn sie müde ist oder Hunger hat. Er hat sogar damit zu tun, ob sie fröhlich oder traurig ist.“
„Dabei sieht er gar nicht nach so etwas Wichtigem aus ...“ Poietin schaute sich um. „Ein bisschen wie ein Blumenkohl!“
„Schau mal, hier ist Orexin! Das ist eines von den Proteinen, die sich um Lilis Appetit und Schlaf kümmern! Huhu, Orexin!“ Globin versuchte mit ausladenden Gesten, Orexins Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Teil 9: Gehirn und Auge
Ein winziges Protein mit einer Nachtmütze erhob sich gähnend. „Mmm, hat mich jemand gerufen?“ Es war noch im Halbschlaf.
„Ich bin’s, Globin! Hast du nichts Besseres zu tun als zu schlafen? Das macht einen schlechten Eindruck auf Besuch.“
„Besuch? Welcher Besuch? Ausserdem, das ist nicht mein Fehler. Hier ist im Moment nicht viel los. Ich warte auf Verstärkung. Und zwischendurch, hab ich gedacht, kann ich ja ein bisschen döööösen ...“ Es gähnte wieder. Seine Nachtmütze rutschte ihm über die Augen und es nieste laut.
„Gesundheit!“, sagte Poietin freundlich.
„Mmm ...“ Orexin ignorierte Poietin, das Globin anstupste, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Globin drehte sich um und wollte sich gerade beschweren, als Orexin fragte: „Weiss jemand, warum bei Lili alles in Zeitlupe läuft?“
„Sie ist blutarm ...“, antwortete Globin mit dem Rücken zu Orexin und warf Poietin einen finsteren Blick zu.
„Das heisst, ihr Körper ist müde! Deshalb schläft sie so viel!“, liess sich Poietin über Globins Schulter vernehmen.
Globin drehte sich wieder zu Orexin. „Dies“, erklärte es, „ist Poietin“, und trat einen Schritt zur Seite, so dass Orexin es sehen konnte. Orexin blickte zu Poietin, sagte aber nichts. Globin sprach weiter: „... und Poietin sucht nach dem Knochenmark, das Lilis rote Blutzellen herstellt.“
Poietin nickte heftig. „Richtig. Und da ihr im Gehirn doch immer damit angebt, alles zu wissen, könnt ihr uns bestimmt sagen, wo wir es finden?“
Globin kniff Poietin: „Was Poietin eigentlich sagen wollte, ist, dass du uns vielleicht helfen kannst, das Knochenmark zu finden, denn du hast doch so viel Ahnung von den Dingen ...“
„Pfff ... Natürlich weiss ich das“, antwortete Orexin hochmütig, „wofür hältst du mich.“ Es gähnte nochmals ausgiebig, rückte seine Nachtmütze zurecht und schaute die beiden Proteine verschmitzt an. „Aber ich sage euch nur, wo Lilis Knochenmark ist, wenn ich euch erst etwas zeigen darf.“
„Oooooooooooooooh neeiiiiiiin!!! Wir haben wirklich keine Zeit für so etwas“, riefen Globin und Poietin im Chor und wurden ärgerlich. „Sag es uns gleich!“
„Na gut! Ganz wie ihr wollt.“ Orexin verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. „Aber dann sage ich euch auch nicht, wo das Knochenmark ist.“ Es legte sich wieder hin und zog seine Nachtmütze ins Gesicht.
Globin und Poietin waren wütend.
„Ich kann es nicht fassen!“, rief Poietin. „Was ist denn das für ein Protein? Ich werde ihm höchstpersönlich eine runterhauen, wenn es so weitermacht!“
Globin, ebenfalls ausser sich, ging auf und ab, griff sich an den Kopf und murmelte: „Seine Funktion muss ihm in den Kopf gestiegen sein! Es muss alle kontrollieren …“ „Also gut, du hast gewonnen!“, sagte es schliesslich, zu Orexin gewandt. „Zeig uns, was du willst. Aber versprich uns, dass du uns danach den richtigen Weg zeigst.“
Zufrieden stand Orexin auf und lächelte breit. „Ihr werdet’s schon sehen ... Es wird euch gefallen, was ich euch da zeigen werde“, sagte es aufgeregt. „Und es ist auch nicht weit.“
Die drei Proteine schlängelten sich durch die Irrwege von Lilis Gehirn.
„Seid vorsichtig, dass ihr keinen Schlag bekommt“, warnte Orexin. „Hier fliesst Strom.“
Es führte Globin und Poietin zum Eingang eines engen Tunnels, an dessen Ende sie ein helles Licht sehen konnten. „Dies ist Lilis Sehnerv. Wenn wir ihm folgen, kommen wir zum Auge. Gehen wir, ich werde euch etwas Erstaunliches zeigen!“
Als sie ins Auge eintraten, verschlug es Globin und Poietin den Atem. „Wow! Dieser Ort ist gigantisch!“ Sie fanden sich in einem riesigen, völlig runden Raum wieder, der von einem Netzwerk feinster Adern umhüllt war.
„Kommt hierher!“, rief Orexin aufgeregt. „Ich möchte euch jemanden vorstellen!“ Es führte seine beiden Freunde vor einen riesigen, runden Bildschirm, der sich kontinuierlich veränderte. Er wurde grösser und kleiner. Und dann wieder grösser. Es war wie in einem seltsamen Kino.
„Coooool!“ Poietin war begeistert. „Können wir einen Film sehen?“
„Willkommen“, hauchte eine Stimme, die aus dem Bildschirm zu kommen schien.
„Wer redet denn da?“, fragte Poietin.
„Kristallin.“
„Krista- wer?“
„Kristallin.“
Globin und Poietin schauten sich verblüfft an. Sie näherten sich dem Bildschirm, um zu schauen, ob etwas dahinter war.
„Vielleicht ist es ein Geist?“, sagte Globin, etwas verunsichert.
„Hör auf, Globin, du machst mir Angst!“, antwortete Poietin, das wie ein Blatt im Wind zitterte.
„Aber nein, ich bin kein Geist. Ich bin durchsichtig. Das ist alles.“
„Durchsichtig? Das ist alles?“, flüsterte Poietin Globin zu. „Ich will hier weg!“
Orexin schaute den beiden amüsiert zu. Die Stimme redete weiter.
„Ich bin der Bildschirm, den ihr vor euch seht.“
Poietin drehte sich zu Globin: „Wie kann es der Bildschirm sein?“
„Sei ruhig und hör zu!“, sagte Globin.
„Was ihr da seht, ist kein Kinobildschirm, es ist die Kristallin-Linse. Ein Teil von Lilis Auge. Eine Art Fenster.“
„Normalerweise kann man durch ein Fenster hindurchsehen ...“, murmelte Poietin.
„Was ihr da hinten seht, ist die Welt draussen. Es ist genau das, was Lili gerade sieht.“ Poietin und Globin traten nach vorne, um besser zu sehen.
„Wow ...“
„Und ob Lili in der Nähe oder in der Ferne scharf sieht, hängt von der Krümmung der Linse ab.“
„Genau wie bei einer Fotolinse“, bemerkte Poietin.
„Eine was?“, fragte Globin.
„Eine Fotolinse.“
„Woher weisst du das?“
„Das hab ich gelesen.“
„Wo?“
„In einem Buch.“
„Kannst du denn lesen?“
„Hört ihr eigentlich nie auf zu streiten?“, fragte Kristallin.
„Das ist wirklich unglaublich!“, staunte Poietin, ohne Kristallin zu beachten. „Schaut mal! Wir sind in Lilis Schlafzimmer! Und schaut da! Da sind ihre Kommode und der Spiegel! Und da! Ihr Schrank! Und das Fenster! Oh! Schaut euch die Kirschbäume im Garten an! Ist das nicht wunderschön?“
„Ich hab’s euch ja gesagt.“ Orexin war nicht wenig stolz.
„Uff ... Mir ist wieder schlecht ...“ Poietin sackte in sich zusammen.
„Das ist ganz normal“, sagte Kristallin. „Man muss sich daran gewöhnen.“
Die drei Proteine bewunderten die Aussicht, als unvermittelt ein grosses haariges Monster mit riesigen Ohren und einem Mund voll scharfer Zähne auftauchte. Es schien sich auf sie stürzen zu wollen!
„Hilfe!“ Globin und Orexin wichen mehrere Schritte zurück und stolperten über Poietin, das sich unter ihnen krümmte. „Los, weg!“ „Runter von mir!“
weiter zum letzten Teil
Text und Illustrationen: Vivienne Baillie Gerritsen und Sylvie Déthiollaz (Swiss-Prot Group, Swiss Institute of Bioinformatics)
Originaltitel: «Globine et Poïétine sur la piste de la moelle rouge»
Übersetzt ins Englische von Vivienne Baillie Gerritsen
Übersetzt vom Englischen ins Deutsche von CVB International, überarbeitet von Redaktion SimplyScience.ch
© 2003 Vivienne Baillie Gerritsen, Sylvie Déthiollaz, Swiss-Prot Group, Swiss Institute of Bioinformatics
ISBN 2-9700405-2-2
Die Geschichte ist als französisches und englisches Buch bei Lulu.com erhältlich. Die PDF-Versionen sind kostenlos downloadbar.