Herr Nicollier, warum ist eine „Weltraumkehrichtabfuhr“ überhaupt nötig?
Weil es dort oben sehr viel Schrott gibt: Im unteren Orbit, das heisst auf zwischen 200 und 2'000 Kilometern Höhe, gibt es etwa 20'000 solcher Schrottteile: Reste von Raketenwerfern und Raketenstufen, ausrangierte Satelliten, Solarzellen, abgesplitterte Lackteile und sogar in der Kälte des Weltalls gefrorene Treibstoffreste. All dieser Müll stellt eine grosse Kollisionsgefahr für neu lancierte Flugkörper dar.
War das bei den Weltraummissionen, an denen Sie teilgenommen haben, ein ernstzunehmendes Problem?
Dass ganze Schwärme von Trümmerteilen auf ihrer Flugbahn alles kurz und klein schlagen, wie im Film „Gravity“ dargestellt – so ist es nicht. In Wirklichkeit ist die Dichte der Schrottteile im Vergleich zu den unendlichen Weiten des Weltraums eher tief. Alle Metallteile von mehr als 10 Zentimetern Grösse werden per Radar überwacht und ihr Orbit ist bekannt; die Internationale Raumstation muss manchmal entsprechende Ausweichmanöver fliegen, desgleichen die Raumfährte zuvor – während meiner Missionen ist das mehrmals vorgekommen. Doch im Gegensatz zu den bemannten Raumschiffen lässt sich die Flugbahn vieler Satelliten nicht ändern. 2009 ist es zu einer Kollision gekommen, ein ausrangierter russischer Satellit ist mit einem amerikanischen Kommunikationssatelliten* zusammengestossen und bei der Kollision sind unzählige neue Bruchstücke entstanden. Je nach Flughöhe können solche Teilchen jahrhundertelang im Orbit weiter um die Erde fliegen.
Der Mensch ist noch nicht sehr lange in den Weltraum vorgedrungen – und schon verursacht er Probleme?
Es gibt im Orbit heute mehr Schrottteilchen als aktive Satelliten. Dagegen muss etwas unternommen werden. Eine mögliche Massnahme ist es, die Lebensdauer aller Flugkörper in Zukunft von vornherein auf 25 Jahre zu beschränken: Danach müssen sie ihren Orbit verlassen und in der Erdatmosphäre verglühen. Ein anderer Ansatz, den die ESA (European Space Agency, Europäische Weltraumorganisation) und die NASA (National Aeronautics and Space Administration, US-amerikanische Weltraumbehörde) bereits aktiv verfolgen, besteht darin, die grossen Trümmerteile gezielt zu entsorgen. Mit ihrem CleanSpace One‐Projekt, an dem sie nun seit fünf Jahren feilt, hat die EPFL in Lausanne gute Chancen, einen ersten Satelliten einzusetzen, an dem die dafür notwendige Technologie getestet werden kann.
Wie geht dieses Abschleppmanöver vor sich?
Die Idee ist es, Swiss Cube, den kleinen Schweizer Satelliten, den die EPFL entwickelt und 2009 auf einer fast polaren Umlaufbahn lanciert hat, herunterzuholen. Vorstellen muss man sich CleanSpace One wie einen Korb, dessen Deckel sich im richtigen Moment öffnet und wieder schliesst. Dafür muss er nahe genug an Swiss Cube herankommen, ihn packen und dann mithilfe eines ultrakompakten Triebwerks in die Erdatmosphäre bringen. Das Manöver endet mit der Zerstörung des Satellitenduos, das zu einer Sternschnuppe verglüht.
Und wenn es klappt, könnte CleanSpace One zum Prototypen einer ganzen Reihe von Reinigungssatelliten werden?
Das ist die Absicht. Wir möchten zeigen, dass diese Technologie sich auch dafür eignet, grössere Reinigungssatelliten für die systematische Entsorgung von grossen Trümmerteilen zu bauen. Und selbst wenn das nicht gelingt – wir werden dabei sehr viel gelernt haben. „I never lose. I either win or learn“, sagte Nelson Mandela. In der Raumfahrt gilt das auch.
Wie gelingt es einem kleinen Land wie der Schweiz, in der Weltraumfahrt eine Rolle zu spielen?
Die Schweiz ist eine Raumfahrtnation. Wir sind zwar ein kleines Land und was wir in der Raumfahrt verwirklichen konnten, lässt sich nicht mit dem vergleichen, was die USA, Frankreich, Italien oder Deutschland tun. Doch der Schweiz ist es gelungen, im Bereich der Raumfahrt eine ganze Reihe von Nischen zu besetzen. Zu einem ganz wesentlichen Teil lässt sich das auf ihre grosse Erfahrung in der Uhrentechnologie zurückführen: Exakte und zuverlässige Uhren, hochpräzise Mechanismen und elektronische Systeme sind unsere Stärke. Das Schweizer Zentrum für Elektronik und Mikrotechnologie (CSEM) in Neuenburg zum Beispiel ist auf hochpräzise, energiesparende Mikrosysteme spezialisiert. Die Europäische Weltraumbehörde anerkennt diese schweizer Kompetenzen. Das führt dazu, dass wir bei ESA-Projekten zwar selten den Lead haben, aber an sehr vielen beteiligt sind.
Sie sind der erste und bisher einzige Schweizer Astronaut. Was raten Sie jungen Leuten, die in Ihre Fussstapfen treten möchten?
Wichtig ist es, zu wissen, dass in der Raumfahrt ein grosser Bedarf an Ingenieuren besteht, seien es Bau‐, Elektro‐ oder Informatikingenieure. Eine beträchtliche Anzahl von Schweizer Unternehmen sind im Bereich der Raumfahrt tätig und brauchen solche Ingenieure: Dazu gehören das CSEM oder Spectratime in Neuenburg, die Ruag in Zürich und Apco in Aigle, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Weitere Möglichkeiten bestehen in Europa. So absolvieren viele Studenten und Assistenten der EPFL ein Praktikum beim Europäischen Weltraumforschungs‐ und Technologiezentrum (ESTEC) in den Niederlanden, wo ein Grossteil der technischen Planung und Weltraumtauglichkeitstests stattfindet. Im Bereich der Raumfahrt zu arbeiten, ist also durchaus möglich, Astronaut zu werden hingegen schon ein bisschen komplizierter, weil die Nachfrage sehr klein ist. Das Europäische Astronautencorps umfasst nur gerade 16 Personen – für kleine Länder gibt es da wenig Platz. Aber ich bin der Beweis dafür, dass es trotzdem möglich ist. Damit es gelingt, muss man alle Chancen auf seine Seite bringen, also ein Studium machen und dann als Raumfahrtingenieur arbeiten, sportlich sein und eine Risikosportart wie Sportfliegen, Bergsteigen oder Tiefseetauchen betreiben. Und sich beim nächsten Auswahlverfahren, das um 2025 stattfinden dürfte, dann eben auch melden und versuchen, sein Bestes zu geben.