Selen ist für Mensch und Tier ein essenzielles Spurenelement. Dies bedeutet, dass Selen zwar nur in sehr geringer Menge im Körper vorkommt, aber mit der Nahrung aufgenommen werden muss, da der Organismus es nicht selbst herstellen kann.
Ohne Selen geht’s nicht
Im Körper wird Selen in Form von Selenocystein (siehe Highlight-Box) in Enzyme eingebaut. Enzyme sind als Biokatalysatoren an fast allen Vorgängen in unserem Körper beteiligt; zum Beispiel gibt es eine Gruppe von selenhaltigen Enzymen (sogenannte Glutathionperoxidasen), die unsere Zellen vor Stress durch reaktive Sauerstoffverbindungen schützt. Wenn solche Enzyme nicht richtig funktionieren, kann es zu Mangelerkrankungen kommen. Die Kaschin-Beck-Krankheit beispielsweise führt bei Kindern zu verformten Knochen und Zwergwuchs. Selenmangel scheint dabei eine Rolle zu spielen: Die Krankheit kommt nämlich nur in Regionen mit äusserst selenarmen Böden vor, wo die Pflanzen – also auch die dort angebauten Lebensmittel – kaum Selen enthalten. Dies betrifft Gegenden wie Sibirien, China, Tibet und die Mongolei.
Auch Muskeln können von Selenmangel betroffen sein
Nicht nur Gelenke und das Skelett leiden bei Selenmangel, sondern auch Muskeln, insbesondere der vielleicht wichtigste Muskel des Körpers: das Herz. Die Keshan-Krankheit wird hauptsächlich bei Kindern und jungen Frauen festgestellt; sie führt zu Herzrhythmusstörungen und Phasen, in denen das Herz nicht regelmässig schlägt oder nicht genügend Blut vom Herz in den Körper gepumpt wird. Der Herzmuskel nimmt dabei an Grösse zu, wird aber mit Bindegewebe durchsetzt, was seine Funktion beeinträchtigt. Auch diese Erkrankung wurde zuerst in den selenarmen Gegenden Chinas beobachtet und deshalb nach dem Stadtteil Keshan der chinesischen Stadt Qiqihar benannt.
Selenmangel bei Nutztieren
Auch für Tiere ist Selen ein essenzielles Spurenelement. Selenmangel bei Kühen, Schafen und Ziegen äussert sich am häufigsten als sogenannte Weissmuskelkrankeit, die Schwäche, einen steifen Gang und Muskelzittern hervorruft. Gibt man den betroffenen Tieren sofort Selen und Vitamin E, können sie unter Umständen geheilt werden.
Wie beim Menschen kann auch beim Tier das Herz unter Selenmangel leiden. In der Schweiz sind rund 4% aller Hausschweine von der sogenannten Maulbeerherzkrankheit betroffen. Man weiss nicht ganz genau, wie diese Veränderung des Herzmuskels eigentlich genau entsteht, da man sie in Studien bisher nicht künstlich hervorrufen konnte. Klar ist nur, dass sie mit Selen und Vitamin E gut behandelt werden kann und deshalb wohl durch einen Mangel an diesen Mikronährstoffen hervorgerufen wird.
Selenüberversorgung: Zu viel ist auch nicht gut
Was aber passiert, wenn man zu viel Selen aufnimmt? Eine Überversorgung mit Selen (auch Selenose genannt) kommt bei Tieren erstaunlicherweise gar nicht so selten vor. Einerseits gibt es bestimmte Pflanzen, die Selen aus dem Boden anreichern, sogar in selenarmen Gebieten. Werden diese von Tieren in grösseren Mengen gefressen, kann es zu Vergiftungserscheinungen kommen. Andererseits kann es auch durch Fehler bei der Herstellung von Futtermitteln zur versehentlichen Überdosierung von Selen kommen! Im Gegensatz zum Selenmangel ist der Mechanismus einer Selenvergiftung besser untersucht. Grössere Mengen von Selen werden im Magendarmtrakt der Tiere zu Selenat oxidiert, das wiederum für Zellen toxisch ist und sie zum Absterben bringt. Als Folge entstehen beispielsweise Schäden im Rückenmark, die zu Muskelzuckungen, Lähmungen, Fruchtbarkeitsstörungen oder sogar plötzlichen Todesfällen führen können.
Ein essenzielles Spurenelement wie Selen kann also nur in der richtigen Dosis seine Funktion im Körper korrekt erfüllen – die Menge macht's!
Selenocystein
Selenocystein ist eine Aminosäure, also ein Baustein für Enzyme und andere Proteine. Die Reihenfolge, in der die Aminosäuren bei der Translation in ein Protein eingebaut werden, wird von der DNA vorgegeben. Dabei kennt der genetische Code 20 verschiedene Codons, also „Wörter“ für verschiedene Aminosäuren. Diese Aminosäuren werden auch als „kanonische Aminosäuren“ bezeichnet. Neben den kanonischen Aminosäuren gibt es aber auch zwei Aminosäuren, die zwar in den Proteinen gewisser Organismengruppen vorkommen, für welche die Standardversion des genetischen Codes aber kein eigenes Codon kennt. Bei den Eukaryoten ist dies die Aminosäure Selenocystein.
Wie weiss die Zelle nun, dass sie beim Bau eines Enzyms Selenocystein verwenden soll, wenn es dafür keine eindeutige genetische Anweisung gibt? In einem mehrstufigen Prozess wird dazu ein „Stop-Codon“ (also ein „Punkt“ im Satz der genetischen Bauanleitung) umprogrammiert und dient dann als Anweisung, an dieser Stelle Selenocystein in das Enzym einzubauen (man nennt dies Recodierung). Warum es für Selenocystein kein eigenes Codon gibt und sich stattdessen so ein komplizierter Vorgang entwickelt hat, ist eines der Rätsel der Evolution …