Zahlen & Geschichte

Zelluloid, ein Zufall und die Erfindung der Panzerglasscheibe

Zersprungene Scheibe aus Sicherheitsglas vor einer Metallkonstruktion

Bild: CanStockPhoto

Zelluloid, einer der ersten synthetischen Kunststoffe, ist ein bemerkenswerter Stoff: hoch entzündlich und damit eigentlich brandgefährlich (im wörtlichen Sinn) hat es sich in den 100 Jahren nach seiner Entdeckung auf ganz verschiedene Art als nützlich erwiesen. Es war ausschlaggebend für die Entwicklung des Kinofilms, für Tischtennisbälle war es bis in die 2010er Jahre das Material der Wahl, und Edouard Bénédictus hätte ohne Zelluloid nicht einen Zufallsfund gemacht, der zur Erfindung der Panzerglasscheibe führte.

Vom Zufall in der Wissenschaft

Serendipity: Das englische Wort für die „glückliche Fügung“ drückt aus, was in der Forschung manchmal eine grosse Rolle spielt – der völlig ungeplante „Aha“-Moment im Labor! In dieser Artikelserie geht es um bahnbrechende Erfindungen und Erkenntnisse, die wir im Grunde Zufällen oder Missgeschicken zu verdanken haben.

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Brauner, mit ovalen Schmuckelementen verzierter Haarkamm

Haarkamm in Horn-Optik aus Zelluloid, entstanden Ende des 19. Jahrhunderts. Bild: Rijksmuseum

Zelluloid, ein synthetisches Polymer auf der Grundlage von nitrierter Zellulose und Kampfer (einem Inhaltsstoff des Kampferbaums), gilt als der erste thermoplastische Kunststoff. Bei seiner Erfindung Mitte des 19. Jahrhunderts war seine spätere Bedeutung für ganz verschiedene Anwendungen noch nicht absehbar. Eigentlich war es nämlich als Ersatzmaterial für teure Naturmaterialien wie Elfenbein, Bernstein oder Perlmutt entwickelt worden; in den nächsten 100 Jahren erweiterte sich das Einsatzgebiet der Zelluloide auf so unterschiedliche Artikel wie Kugelschreibergehäuse, Messergriffe, Puppen und Tischtennisbälle.

Grundlage des Kinofilms

Parallel dazu erlangte durchsichtiges Zelluloid ab Ende der 1880er Jahre grosse Bedeutung als Trägermaterial für fotografische Filme: Der Zelluloidfilm war geboren, ohne den die Entwicklung von Kinofilmen kaum denkbar gewesen wäre! Da das Material jedoch sehr leicht entzündlich ist – Zellulosenitrat ist chemisch eng verwandt mit den hochexplosiven Nitrat-basierten Sprengstoffen – wurde es ab Mitte des 20. Jahrhunderts verboten. Dies ist auch der Grund, warum die historischen Filmaufnahmen jener Zeit nur unter strengen Sicherheitsvorkehrungen aufbewahrt werden dürfen und Filmarchive den Anforderungen des Sprengstoffgesetzes entsprechen müssen!

Florales Gemälde, aussen dunkel, innen in Blau- und Rosatönen gehalten

Der Erfinder des Panzerglases, Edouard Bénédictus, war ein kreatives Multitalent: hier eines seiner Designs, das er als Maler gestaltete. Bild: Rawpixel

Der unzerbrechliche Kolben

Zelluloidreste in einem Labor gaben auch den Anstoss für eine weitere nützliche Erfindung, die völlig ungeplant war. Der französische Maler, Komponist und Schriftsteller Edouard Bénédictus, nebenbei auch ein kreativer Chemiker, arbeitete mit dieser Substanz in seinem Labor. Daran dachte er allerdings nicht, als er eines Tages im Jahr 1903 aus Versehen einen Glaskolben vom Regal stiess – und höchst verwundert feststellte, dass dieser nicht wie erwartet in Tausend Stücke zersprang, sondern auch nach dem Aufschlag noch zusammenhielt. Rückfragen bei seinem Assistenten ergaben, dass der Kolben wohl Reste von flüssigem Zelluloid enthalten hatte, die beim Eintrocknen eine durchsichtige Schicht bildeten und die Scherben zusammengehalten hatten.

Auto, dessen Front von einem umgestürzten Baum eingedrückt wurde

Heutige Autoscheiben zersplittern nicht, da sie aus Verbund-Sicherheitsglas bestehen. Die Scherben haften an der Kunststoffschicht und verformen sich bei einem Aufprall mit dieser. Bild: CanStockPhoto

Glassplitter vermeiden – mit einer Beschichtung

Ungefähr zu derselben Zeit erfuhr Bénédictus von einem Verkehrsunfall, bei dem die Splitter der Windschutzscheibe des Autos eine Frau schwer verletzt hatten – und der Chemiker hatte eine Idee … Mit Hilfe einer Beschichtung von Glas mit geeigneten Stoffen müssten sich „unzerbrechliche“ Scheiben herstellen lassen! Es waren zwar noch viele weitere Experimente vonnöten, doch letztlich mündete die Zufallsentdeckung von Bénédictus in der Entwicklung von mehrschichtigem Sicherheitsglas, wie es heute Standard bei Autoscheiben ist und natürlich auch an zahlreichen anderen Orten verwendet wird: bei Verglasungen von Balkonen, Hallenbädern oder Bushaltestellen und überall, wo „Panzerglas“ als Einbruchschutz verwendet wird.

Erstellt: 16.01.2023
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